Mondsüchtig

In den Kreisen der Hölle

Mondsüchtig

In den Kreisen der Hölle

Titel: In den Kreisen der Hölle
Reihe: Mondsüchtig
Erscheinungstermin: 30.06.2022
9. Teil der Mondsüchtig-Reihe
Verfügbare Formate: Ebook
Preis Ebook: 1,99€

Kapitel 1

[Rai]
Der Schmerz lähmte mich. In regelmäßigen Wellen schwappte er über meinen Verstand und ließ mich atemlos zurück. Aria opferte sich für uns, dafür, dass wir alle – wir, die wir sie liebten, die Gruppe, die Menschen in New York City und auf der ganzen Welt – in Sicherheit waren. Dafür gab sie ihr Leben. Doch ihr Opfer wurde entweiht, weil Satan trotz des toten Leibes seiner Mutter geboren wurde. Nicht sie schenkte ihm das Leben. Diese verdammte Missgeburt holte es sich einfach und kroch aus ihrem Körper wie eine Monstrosität, ein widernatürliches Geschöpf. Wir glaubten uns schon in Sicherheit, schmeckten den süßen Duft des Sieges – trotz ihres Todes. Aber wir alle hätten damit Leben können, wenn ihr Opfer es wert gewesen wäre. Allen voran Eldridge. Doch Satan – oder wie auch immer seine wiedergeborene Form genannt werden sollte – entriss uns den Sieg und ließ jeden Einzelnen zerstört zurück. Selbst kämpfen konnten wir nicht. Er war viel zu stark.
Was blieb, war der Schmerz über ihren Verlust, die Sinnlosigkeit ihres Todes und kalte, nackte Trauer.
Nachdem Satan und Asmodai – ich weigerte mich, den Dämon mit Flinns Namen anzusprechen – den Ort des Verbrechens verlassen hatten, zerstreuten wir uns. Nicht freiwillig. Eldridge tobte in seinem Schmerz und schrie jeden an, der sich Arias toten Leib nähern wollte, dass er ihn vernichten würde, wenn wir ihn nicht augenblicklich alleine ließen. Ich hätte gerne ihre Wunden geschlossen, sie gewaschen und in frische Kleidung gehüllt, doch der Hexenmeister ließ es nicht zu. Die Luft schwirrte vor unterdrücktem Zorn und wir fürchteten um unser Leben, wenn wir noch länger in ihn dringen würden. Also verließen wir das Lagerhaus.
Rossos kehrte in seine Bar zurück, Riley und Nova folgten ihm, während Luzifer und ich ins Penthouse fuhren. Die vergangenen Tage zehrten an unseren Kräften und wir brauchten dringend Schlaf, bevor wir uns dem nächsten, sehr viel größerem Problem widmeten. Satan. Noch war er klein und hilflos, nur mit einem Dämon an seiner Seite, der noch dazu in einem menschlichen Körper gefangen war. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass das nicht von Dauer sein würde. Asmodai mochte noch an Flinns Sterblichkeit gebunden sein, Satan hingegen … würde bald über immense Kräfte verfügen.
Meine Gedanken schweiften zu Jesus, dem eigentlichen Messias. Wenn Satan im Begriff war, sein dunkles Gegenstück zu werden und ich Jesus‘ Fähigkeiten, wie sie in der Bibel beschrieben wurden, für gegeben annahm, musste ich davon ausgehen, dass das Kind bald über Kräfte verfügen würde. Kräfte, die die von Luzifer und mir überstiegen. Wir durften also keine Zeit vergeuden. Allerdings fehlte uns jeglicher Ansatz für Nachforschungen, unsere körperlichen Reserven waren erschöpft und die Gruppe demoralisiert. Wir waren schon von vornherein nur ein zusammengewürfelter Haufen gewesen. Jeder verfolgte eigene Ziele. Wir arbeiteten nur deshalb zusammen, wenn sie sich zufällig deckten. Das musste sich ändern, wenn wir eine reelle Chance gegen Satan haben wollten.
Mir schwirrte der Kopf. Ich sollte wirklich schlafen. Nach einer ausgiebigen Dusche hatte mich Luzifer schnurstraks in eines der Gästezimmer verfrachtet. Er wollte Nachforschungen in Auftrag geben. Zwar behauptete er, als Engel über einen unermesslichen Vorrat an Energie zu verfügen, doch ich glaubte ihm nicht. Im Kampf gegen Beelzebub trug er schwere Verletzungen von sich. Zwar konnte ich die Wunden heilen und im gleichen Zug seine Flügel wiederherstellen, aber das hieß noch lange nicht, dass seine Kraftreserven unendlich waren. Er brauchte Ruhe. Ich ließ mich nur deshalb ins Bett schicken, weil er mir versprach, in Kürze bei mir zu sein. Selbst wenn er keinen Schlaf fand, ich benötigte ihn.
»Rai.« Luzifers Stimme enthielt einen vorwurfsvollen Unterton. Unwillkürlich drehte ich den Kopf in seine Richtung. Ich saß noch immer genauso aufrecht im Bett wie vor … ich konnte mich nicht erinnern, wie lange ich schon hier war. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um Aria und ihren sinnlosen Tod. Wenn sie nur nicht umsonst gestorben wäre, ertrüge ich ihren Verlust dann besser? Trauerte ich dann weniger? Würden wir uns dann auf die Schulter klopfen und den Sieg über Satan mit einem weinenden und einem lachenden Auge feiern? Wohl kaum. Ihr Verlust würde auch dann so sehr schmerzen, dass ich kaum atmen konnte.
»Du sollst dich doch ausruhen.« Luzifer löste die verschränkten Arme, stieß sich vom Türrahmen ab und kam zu mir. Er kletterte auf die Matratze, setzte sich hinter mich und zog mich in eine innige Umarmung. Ich seufzte schwerfällig und kuschelte mich an seine Brust. Luzifer schenkte mir ein sanftes Lächeln und strich immer wieder über meine Stirn.
»Ich kann nicht«, murmelte ich und blickte zu ihm auf. »Ich weiß nicht, wie Menschen trauern, aber Kitsune empfinden den Verlust als körperliche Qual. Allein der Gedanke an Aria und die Sinnlosigkeit ihres Opfers bereitet mir Schmerzen. Ich frage mich ständig, was wir hätten anders machen können … wenn wir nur schneller gewesen wären, hätten wir dieses Monster aufhalten können.«
Luzifer seufzte. »Die Hexe war nicht zu retten.«
Ich verengte die Augen zu Schlitzen. »Aria.«
»Aria war nicht zu retten.« Sein Blick verhärmte. Nur wenn er mich ansah, weichte die Härte seiner Züge auf, ansonsten trug er eine fast undurchdringliche Maske an stoischer Gelassenheit. Heute jedoch schien sie von Rissen durchfurcht zu sein. Luzifer schaffte es nicht, die Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten. »Aria«, wiederholte er ihren Namen. »Sie war unglaublich mutig. Auch wenn ich nicht sonderlich viel für Menschen übrig habe, so war sie doch eine herausragende Vertreterin ihrer Spezies. Sie nahm ihre Sterblichkeit an und opferte sich für das Wohl der Menschen dieser Stadt. Das werde ich ihr nie vergessen.«
Ich presste die Lippen aufeinander. »Davon wird sie sich auch nichts mehr kaufen können.«
Luzifer starrte mich verblüfft an, bevor ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte. »Nein, in der Tat nicht. Aber wir werden ihr Andenken in Ehren halten. Du wirst mir verzeihen, dass ich in meinem Egoismus unendlich froh darüber bin, dich wieder in meinen Armen halten zu dürfen.«
Ich verzog das Gesicht. »Dein Verrat …«
»Tut mir nicht im Geringsten leid. Das ist nicht das, was du hören möchtest, aber manchmal bin ich gezwungen, das Wohl der Gemeinschaft über deine Ansichten zu stellen.«
Ich wusste, weshalb er uns belogen hatte. Die Armee der Ghule musste irgendwie aufgehalten werden, und doch machte es nicht länger einen Unterschied. Aria war tot und Satan entstieg der Hölle. Luzifer immer noch zu grollen kam mir kindisch vor. »Ich weiß«, entgegnete ich daher schlicht. Er beugte sich vor und küsste meine Wange.
»Danke.«
»Ich muss deine Methoden aber dennoch nicht gutheißen.«
Luzifer ließ sich zurücksinken. »Wenn es mir möglich ist, werde ich dein sanftes Wesen berücksichtigen. Aber versprechen kann ich dir nichts.«
Ich seufzte. »Die Worte aus deinem Mund genügen mir.«
Luzifer streichelte mein Haar. »Und nun schlaf. Du brauchst deine Kräfte. Vor allem, nachdem du mich geheilt hast. Wer weiß, welche Großtaten uns in naher Zukunft noch erwarten.«
Stöhnend ließ ich mich auf den Rücken fallen. »Ich kann nicht. Arias Tod geht mir zu nahe. Ich muss ständig an Eldridge denken. An seinen Schmerz …«
»Mit der Zeit wird der Hexenmeister sich fangen und erkennen, dass die Gefühle für die Hexe reine Sentimentalitäten sind. Er ordnet sie den höheren Zielen unter, so wie er es schon immer getan hat.« Luzifers Worte hinterließen einen faden Nachgeschmack. Er rückte Eldridge in ein vollkommen anderes Licht. Ich konnte nicht glauben, dass er es ernst meinte. Der Mann, den ich vor wenigen Stunden in Arias Blut knien gesehen hatte, widersprach in jeder Hinsicht dem Bild, das Luzifer gerade gezeichnet hatte. Ich hob den Kopf und musterte meinen Engel.
»Das kann ich nicht glauben. Eldridge war außer sich.«
Luzifer seufzte. »Er wird sich fangen. Du wirst sehen. Und nun sage mir, was ich tun kann, damit du endlich schläfst, mein kleiner Fuchs?« Er beugte sich über mich und näherte sich meinen Lippen bis auf wenige Zentimeter. »Wie kann ich dich auf andere Gedanken bringen?«
Mir war ganz und gar nicht nach Sex zumute, doch einem so attraktiven Mann wie Luzifer konnte ich kaum widerstehen. Seine ganze Erscheinung sprach die Kitsune in mir an. Ich legte meine Hände auf seine Schultern und fuhr über sein seidenes Hemd. Darunter fühlte ich stahlharte Muskeln. »Ich wüsste da etwas«, schnurrte ich und nestelte am obersten Hemdknopf herum. Abrupt griff Luzifer mach meinen Händen.
»Nicht so, eher so …« Er schob die Bettdecke beiseite und küsste sich an meinem Körper hinunter. »Ich bin so froh, dass ich dich wieder habe«, murmelte er immer wieder, hakte seine Finger in mein Höschen und schob es mir bis zu den Knien und über die Füße.
»Luzifer«, stöhnte ich. »Bitte … ich weiß nicht, ob nach dem, was heute alles schon passiert ist, Sex passt.«
Luzifer hob die Augenbraue und musterte mich in seiner unvergleichlichen Art: leicht arrogant mit einer Spur Herablassung, in den Mundwinkeln allerdings ein Hauch Amüsiertheit und die Pupillen von schwerer Lust verdunkelt. Nur er konnte mich so ansehen.
»Wir schlafen nicht miteinander. Ich sorge nur dafür, dass du dich nicht länger quälst. Und nun sei ein braver Fuchs und …« Luzifer betrachtete mich lüstern, während er ganz langsam meine Knie auseinander schob.
»Oh, scheiße!« Ich warf den Kopf in den Nacken und wölbte ihm mein Becken entgegen. Ein leichter Klaps auf den Oberschenkel ließ mich zusammenfahren und empört nachsehen, was ihn zu dieser Aktion verleitet hatte.
»Nicht diese Wortwahl«, knurrte er und beugte sich über meine intimste Stelle. Ich verdrehte die Augen. Noch ehe ich meiner Empörung Luft machen konnte, spürte ich seine hauchzarte Berührung an der Innenseite meines Oberschenkels. Luzifers hielt meine Kniekehlen, drückte die Schenkel auf die Matratze und fixierte sie mit den Knien, so dass ich ausgebreitet vor ihm lag.
»Du spinnst.« Meine Lider flatterten in verheißungsvoller Vorfreude. Unsere Beziehung dauerte bereits über ein Jahr und er wurde nie müde, mich auf diese Weise zu verwöhnen. Anfangs dachte ich, er täte es meinetwegen, um mir seine volle Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Mittlerweile wusste ich aber, dass Luzifer mich auch ganz gerne auf diese Weise genoss. Mich zu lecken verlieh ihm Macht über meinen Körper und davon bekam er nie genug.
»Entspann dich, mein Fuchs.« Sanfter Atem blies über meine intimste Stelle. Ich erschauerte wohlig und ließ mich fallen. Jegliche Anspannung wich aus meinen Muskeln. Mit jeder hauchzarten Berührung breitete sich die Wärme wellenartig in meinem Körper aus. Ihr Zentrum bildeten Luzifers geschickte Zunge und Finger. Er glitt in mich, entfaltete sein Können, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, ob da nicht ein Hauch seiner Magie mitspielte. Im Moment interessierte es mich nicht. Jeder bohrende Gedanke an Arias Tod und Eldridges Schmerz verpuffte. Mein Verstand leerte sich mit jeder neuen pulsierenden Welle. Und als Luzifer mehrere Finger in mich bohrte und seine Zunge ihr lustvolles Spiel auf meiner empfindlichsten Stelle vollendete, wob mich seine Fürsorge in einen Kokon watteweicher Wärme.
Ganz langsam baute sich ein unglaublich kraftvoller Orgasmus in mir auf, was zum einen an Luzifers geschickten Berührungen lag. Zum anderen peitschte er nicht voran, so dass sich die Empfindungen explosionsartig entluden. Nein, er hielt sich bewusst zurück, drängte in gemächlichen Tempo vorwärts und beschleunigte nicht als ich mich unter ihm auflöste. Wie ein gewaltiger Sturm schlug der Höhepunkt über mir zusammen und ich ertrank in einem Meer aus losgelösten Wellen.
Als ich wieder zu mir kam, trieb ich auf den sanften Wogen des nachklingenden Orgasmus dahin, befriedigt, gesättigt und unendlich müde. Meine Gedanken kamen zur Ruhe und in Luzifers Armen, begleitet von sanften Küssen, driftete ich in einen tiefen Schlaf.

[Nova]
Was stellte man an, wenn man jemanden verlor, den man nicht mal gekannt hatte? Für dessen Rettung man die eigenen Ziele unterordnete, nur um dann doch die Leiche anzusehen? Wenn man selbst die Klinge gehalten hatte, die das Leben eines Menschen beendet hatte?
Genau, man trank. Frau auch, und zwar ganz besonders. Ich kannte mich mit dem Tod aus, ach, was erzählte ich, der Tod war mein Geschäft. Nicht umsonst nannte man uns auch Vollstrecker. Wir beendeten Leben, wenn die Geschöpfe, die Wesen der Unterwelt, die Sicherheit der Menschheit gefährdeten. Das klang so richtig cool. Hätte es in einer öffentlichen Stellenbeschreibung vermutlich auch: Retten Sie die Welt! Leisten Sie Ihren Beitrag, seien Sie ein Teil des großen Ganzen! Werden Sie Jäger und beschützen Sie die Menschheit! Unterschreiben Sie noch heute einen Vertrag auf Lebenszeit. Denn eines ist gewiss: Wir lassen unsere Leute nie wieder gehen.
Doch in Wahrheit fühlte es sich verdammt scheiße an. Ein Leben zu beenden fiel mir auch nach so vielen Jahren nicht einfach, auch wenn Aria Woods es von mir verlangte. Sie wollte sterben, um die Welt zu retten. Sie war die große Vollstreckerin, ich nur das Werkzeug. Und das Werkzeug würde sich am liebsten in einer Kiste verkriechen und für sehr lange Zeit das Tageslicht aussperren. Da es an Kisten mangelte und ich nicht vorhatte, demnächst das Zeitliche zu segnen, wählte ich die zweitbeste Lösung meiner psychischen Probleme: Alkohol.
»Johnson, es reicht.« Riley nahm mir die Flasche mit irgendeinem billigen Fusel aus der Hand, beugte sich über die Theke und verstaute sie außerhalb meiner Reichweite.
»Hey!«, lallte ich und boxte meinem Partner gegen die Schulter. »Du kannst nicht für mich entscheiden. Ich habe ganz alleine entschieden, sie zu töten. Also besaufe ich mich stilecht. Du kannst gerne mitmachen, aber du hast nicht das Recht, mich davon abzuhalten.« Bei jedem meiner Worte pikte ich Riley in die Brust. Der Kerl wog fast doppelt so viel wie ich und überragte mich um mehr als einen Kopf, doch der Blick, mit dem er mich bedachte, brachte mein Herz zum Überquellen. Hastig blinzelte ich die Tränen weg und wandte mich ab, auf der Suche nach einer neuen Pulle Hochprozentigem. Ich brauchte sein Mitleid nicht.
In meinem vom Alkohol umnebelten Hirn spürte ich seine Hand auf meiner Schulter und gab nach. Warum auch immer. Riley übte nicht einmal besonders viel Druck auf mich aus, er zog mich einfach an sich. »Es ist okay«, murmelte er und kratzte mit seinem Bart über meine Haut. Tränen liefen mir stumm über die Wange. »Du hast getan, was nötig war. So wie immer.« Ich war nicht annähernd betrunken genug, um die Bitterkeit in seinen Worten zu überhören. Riley kannte die Stellenbeschreibung. Er wusste, wozu wir fähig sein mussten und er wusste, was das aus uns machte. Der Job zerstörte uns, irgendwann. Doch heute nicht. Der Tag, an dem ich mich an Rileys Schulter ausheulte, lag noch in weiter Ferne. Alkohol, ich brauchte mehr.
Hastig löste ich mich von Riley, ignorierte seine Worte und hielt nach Rossos Ausschau. Greg stand in einiger Entfernung und polierte seine beschissenen Gläser. Ehrlich, irgendwann würde ich ihm eines seiner Gläser in den Rachen stopfen und mit Gin nachspülen. Greg musterte mich ruhig. »Denk nicht mal dran, Johnson. Ich gebe Riley nur ungern recht, aber du hast genug.«
Ich funkelte den Nephilim an. »Wann ich genug habe, entscheide immer noch ich selbst. Ich bin ein großes Mädchen und …« Ich stützte mich auf die Theke, deutete mit dem Zeigefinger auf den Inhaber des 247 und schwankte. Mein Kopf surrte. Der Alkohol drehte ein paar Übelkeit erregende Runden in meinem Hirn und ich fiel zur Seite, direkt gegen Rileys Bizeps. Mein Freund bedachte mich mit einem genervten Blick.
»Auch große Mädchen müssen mal ins Bett, Nova.« Riley legte seine Hand um meine Taille und zog mich vom Barhocker.
»Ich will aber nicht …«
»Scht.« Riley zog meinen Arm über seine Schulter und drehte sich mit mir im Kreis. Mein Kopf vollführte noch eine extra Drehung, ehe mein Sichtfeld mit einiger Verspätung entflirrte und ich mich zwischen den Tischen, die den Gastraum des 247 bevölkerten, wiederfand. Huch, wie war ich denn hierher gekommen.
»Wir gehen jetzt ins Hotel. Du wirst sehen, nach einer Dusche, einer Mütze voll Schlaf und einer gescheiten Nummer wirst du dich gleich besser fühlen.«
Ich hickste. »Du fickst mich ganz bestimmt nicht, du Spießer.«
Riley lachte. »Wir werden sehen.«
Ich suchte seinen Blick und bohrte ihm erneut meinen Finger in seinen großen Brustmuskel. Oh, der fühlte sich aber richtig gut an. Trotzdem, ich musste standhaft bleiben, sonst nahm sich der Kerl noch weitere Freiheiten heraus. »Du hast verkackt, Quentin Riley.«
»Sie kennt noch meinen vollen Namen. Du hast recht, Johnson, du bist noch nicht betrunken genug.«
»Sag ich doch.« Betrunkene entwickeln eine erstaunliche Kraft, wenn sie unbedingt etwas wollten. Ich lehnte mich einfach zur Seite, nutzte meine geheime nasser Sack Fähigkeit und brachte Riley gewaltig ins Straucheln. Gerade noch beschwerte er sich lautstark, während wir die Drehung vollführten und zur Bar zurückzuwanken, als mein Blick auf Apollo Adams und Rai fiel, die in perfekt gestylter Abendkleidung seine Nische ansteuerten.
»Da brat mir doch einer nen Storch!«, entfuhr es mir. »Der König hält Hof, und das an einem solchen Tag! Geht‘s noch pietätloser?« Aria war vor nicht einmal vier Stunden gestorben, ihr Körper noch warm und Apollo Adams erschien im 247, als wäre nichts geschehen. Mir klappte die Kinnlade herunter, wortwörtlich. Selbst Riley schockierte der Anblick so sehr, dass er meine erzwungene Drehbewegung einfach mitmachte und als ich innehielt, um Adams und Rai anzugaffen, sperrte er ebenfalls den Mund auf, als ob er Rossos bei seinem Fliegenproblem unter die Arme greifen wollte.
»Ist nicht wahr. Haben wir irgendetwas verpasst? Oder war das heute Nachmittag ein grässlicher Albtraum?«
Ich lallte eine Verneinung. »Los, stellen wir ihn zur Rede.«
Rileys Verblüffung hielt an, und ganz nebenbei machte er sowieso immer, was ich sagte, solange ich nicht versuchte, mich ins Koma zu saufen. Vermutlich weil er dann nicht zum Vögeln kam. Betrunken fickt nämlich nicht gut, seine Worte, nicht meine. Hastig schüttelte ich den Kopf. Ich musste mich fokussieren. Adams, Rai, Abendkleidung. Wtf?
»Ms. Johnson«, schnarrte Apollo, als wir in Sichtweite wankten. »Nova«, korrigierte er sich selbst. »Wie ich sehe, bist du mit der Aufarbeitung des Vorfalls beschäftigt.«
»Lass mich los, Riley«, giftete ich und zerrte an meinem Arm. Nur widerwillig gab Riley meinem Drängen nach. Ich hatte mich gerade genug im Griff, dass ich nicht vor Adams Tischchen kollabierte.
»Nova.« Rai warf mir einen traurigen Blick zu. Trotz meines immensen Blutalkoholpegels erkannte ich die Trauer in ihren Augen, den Schmerz, die Qual. Es schien, als ob sie geweint hatte, nur der vermaledeite Adams zeigte keinerlei Gefühlsregung. Ich schluckte.
»Was ist nur los mit dir, Adams? Du bist hier, als ob nichts gewesen wäre, als ob du wie üblich jeden Abend herkommst, Hof hältst und einen Drink nehmen möchtest? Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?«
Apollo verzog das Gesicht. »Mir ist durchaus bewusst, dass jeder anders mit Trauer umgeht. Rai trauert ganz offen, du ertränkst deinen Kummer in Alkohol, während dein Schoßhund darauf achtet, dass du nicht in einem wildfremden Bett aufwachst.« Ich blinzelte verstört. Ach was, ich konnte sehr gut auf mich aufpassen, selbst wenn ich nicht mal mehr meinen Namen kannte. Ich konnte sogar betrunken noch das Auge eines bösartigen Ghuls treffen, mit einer Armbrust. Riley hingegen schien Apollo seine Betitelung als mein Schoßhund übelzunehmen. Er funkelte ihn grimmig an.
»Komm, Nova, wir gehen. Lass ihn in seiner Arroganz ertrinken. Wir haben Besseres zu tun.« Riley hakte mich unter und wollte mich wegziehen, doch Apollos Worte ließen ihn innehalten.
»Stimmt, wir haben tatsächlich Besseres zu tun. Wir müssen ein monströses Baby und seinen Dämon finden, wenn wir die Stadt retten wollen – und euren … Freund.« Apollo legte die Finger aneinander und schenkte uns ein herablassendes Lächeln. Flinn, verdammt. Mal ganz davon abgesehen, dass Apollo recht hatte, vergaßen wir bei all der Aufregung um Aria und das Satan-Baby Flinn. Sein Körper trug bereits heute Morgen starke Spuren der Beanspruchung durch Asmodai. Je länger der Dämonenfürst in Besitz seiner Hülle war, desto mehr würde er verfallen und schlussendlich sterben. Dieser Prozess zwang Asmodai irgendwann zur Suche eines neuen Wirts. Was für uns gut war, gestaltete sich als durchaus schlecht für Flinn. Ihn zu retten, war Arias letzter Wunsch gewesen. Meine Unterlippe zitterte. Das Mindeste, was wir tun konnten, war, ihr diesen zu erfüllen. Mist.
Nur widerwillig blieb ich an Ort und Stelle, während Riley mich zum Ausgang ziehen wollte. Genervt stöhnte er auf und ließ von mir ab. »Was schlägst du vor?«
Apollos Augen glitten genüsslich über uns. Der kleine Sieg gefiel ihm. Lächelnd legte er die Fingerspitzen aneinander und ließ seinen Blick durch den gut gefüllten Barraum schweifen. »Das wir warten. Ich betreibe ein umfangreiches Netz an Spitzeln. Neunzig Prozent der Stadt werden von mir überwacht. Wenn meine Leute Flinn Riker und die Satansbrut ausfindig machen, werden wir es erfahren. Und zwar hier. Das 247 ist der wichtigste Informationsknoten der Stadt. Deshalb sind wir hier, Nova, nicht um Zerstreuung zu suchen.« Sein herausfordernder Blick stachelte mich an, eine unbedachte Bemerkung zu erwidern, doch darauf wusste ich nichts zu sagen. Apollo quittierte meine Reaktion mit einem zufriedenen Lächeln.
»Setzt euch und dann warten wir. Oder geht schlafen. Menschen sind schrecklich leicht zu erschöpfen. Ausgeruht nützt ihr mir mehr.«
Mir klappte die Kinnlade herunter, doch es war Riley, der entrüstet schnaubte.
»Wir arbeiten nicht für dich, Adams.«
Apollo lächelte. »Stimmt, wir arbeiten zusammen, Mr. Riley. Also setzt euch oder geht, aber versperrt mir nicht die Sicht.« Seine Stimme schwoll an, bis er seine Erregung nicht mehr verbergen konnte. Apollo Adams stand kurz davor, seinen Zorn auf Riley und mich niedergehen zu lassen. Riley für seinen Teil hatte den Punkt bereits überschritten. Ich konnte seine brodelnde Wut in meinem Nacken spüren. Hastig hob ich den Arm. Riley prallte dagegen. Gerade so verhinderte ich, dass er sich auf Adams stürzte und eine Prügelei begann, die er nicht gewinnen konnte.
»Reiß dich zusammen, Quentin. Du weißt, wer er ist«, zischte ich. Riley fauchte.
»Ja, Quentin, du weißt, wer ich bin. Also mach Platz«, schnarrte Adams in Höchstform. Er wollte sich gerade erheben, als Rai ihm eine Hand auf den Arm legte.
»Luzifer, bitte«, murmelte sie. Ihre Augen blitzten grün auf und musterten Riley. »Quentin, bitte. Geht schlafen. Ihr könnt euch kaum noch auf den Beinen halten.«
Riley entließ ein Seufzen. Die Anspannung verließ seine Muskeln und er wich einen Schritt zurück. »Du hast recht, Rai. Wir sollten schlafen gehen. Nova?«
Ich rührte mich nicht, konnte nur Rai anstarren. »Du hast ihn Luzifer genannt …« Fassungslosigkeit breitete sich in mir aus. Zu wissen, wer Apollo Adams in Wirklichkeit war, war eine Sache. Es zu hören, eine ganz andere.
Rai lächelte. »Das ist sein Name.«
Apollo schenkte ihr einen Blick, den ich nicht so ganz einordnen konnte. Ihn als verliebt zu bezeichnen, träfe es ganz gut. Aber mal ehrlich: Wir sprechen hier von Luzifer höchstpersönlich. Der Teufel liebt nicht, basta. Doch allen Widersprüchen zum Trotz tat Luzifer genau das. Er neigte den Kopf und brachte seine Lippen an Rais Ohr. Sie lächelte, als er ihr ein paar zärtliche Worte zuflüsterte. Galle quoll aus meinem Magen und stieg mir die Speiseröhre hinauf.
»Boah!«, würgte ich, »lass uns jetzt echt gehen, Quentin, sonst muss ich kotzen. Und das liegt nicht am Alkohol!«
Diesmal bedachte mich Adams nicht mit einem boshaften Blick, sondern lächelte durchaus freundlich. »Ich melde mich bei dir, Johnson, sobald ich etwas weiß.«
»Ja, klar. Ich hab deine Nummer eingespeichert, unter 666.«
Apollo lachte herzlich. »Vielen Dank, Ms. Johnson.«